Der Rosensucher und die sonnige Straße
Sticken ist eine vollkommene Meditation – im Kreis, iм Rhytmus, ohne farbliche Begrenzungen. Меine Gedanken finden ihre Äußerung über die Zeichensprache, meine Finger sticken intuitiv eine ägyptische Hieroglyphe in der Mitte. Der Vogel mit gesenktem Kopf steht für den Begriff „suchen“. Mein Stickvogel sucht nach Rosen, weil ich Sonne und Rosen liebe. Er hat bereits eine Rose verschluckt und balanciert seinen Rosenbauch auf dünnen Beinchen. Über dem Vogel habe ich viele Sonnen, drei türkise Kreuzchen für Glaube, Hoffnung und Liebe gestickt. Das alles ist mit einem blauen, prähistorischen Stich im Kreis umrahmt. Die Rosen, die ich in den Zoom-Stickstunden von Annemie Koenen gelernt habe, hat sie ihrerseits von einer Oma aus Transsilvanien beigebracht bekommen. Sie sind in Relief und sehr zart, mit unzähligen Umwälzungen des Fadens, die die kleinen Blätter formen.
Für meine Seidenfädchen ist jetzt Ordnung à la Annemie angesagt. Einige Nächte habe ich Zöpfe nach der Methode geflochten, die sie von ihrer Mama lernte. Jetzt hängen bei mir glänzende Rapunzelhaare in vielen Farben. So sind sie gut sortiert und können einzeln entnommen werden.
Unter den Fäden fand ich einen Schatz (für mich ist es ein Schatz). Einen Zettel, zum Ball zerknüllt und mit Fäden umwickelt. Auf dem Zettel hat sich Oma was zusammenaddiert, das Papier trägt ihr Aroma, das rauchige Aroma ihres Holzofens. Daneben liegt ein Zopf rote Seidenfäden, die sie mir hinterlassen hat. Oma hat doch ihre Fäden auch so gelagert, sehe ich erst jetzt – auf einem Rapunzelzopf! Dann kam aber wohl ihrе Enkelin, wühlte alles durcheinander und merkte sich nicht, wie man es wieder ordentlich macht. So lernte ich über Annemie in Holland das, was meine Oma in Bulgarien mir bestimmt gern beigebracht hätte, wäre sie noch unter uns gewesen.
Enkelkind, spähe deine Ohren rechtzeitig auf. Sonst suchst du nach dem verschütteten Wissen. Da hast du noch Glück, es trotzdem zu finden!